Gianna Frölicher
Gianna Frölicher studierte Slavistik und Germanistik in Zürich (2005-2012). Sie absolvierte ein Austauschsemester und mehrere Forschungsaufenthalte in Minsk, Belarus. Seit 2012 arbeitet sie als Assistentin am Lehrstuhl von Sylvia Sasse am Slavischen Seminar der Universität Zürich. Neben ihrer Arbeit als Assistentin ist Gianna Frölicher Mitglied der Zürcher Redaktion der Online-Zeitschrift novinki.de. In ihrer Dissertation untersucht Gianna Frölicher sowjetische Agitationsgericht-Theaterstücke der 1920er bis frühen 1930er Jahre und deren Transformationen von der Revolution bis hin zum aufkeimenden stalinistischen Terror. Der Fokus der Arbeit liegt auf der für dieses Genre einzigartigen Verbindung von Theater und Gericht: Nicht nur die Theatertheorien der Avantgarde und der postrevolutionären Zeit, sondern auch der rechtstheoretische Diskurs und die Gerichtspraxis finden Eingang in das Genre und werden in den Stücken unterschiedlich reflektiert und umgesetzt.
Veröffentlichung im Leipziger Literaturverlag
Sasse, Sylvia / Frölicher, Gianna (Hg.): Gerichtstheater, ISBN: 978-3-86660-195-6, LLV 2015
Drei sowjetische Agitgerichte:
- Gericht über eine Kurpfuscherin (1925)
- Gericht über Gott (1924)
- Gericht über einen Bücherschänder (1932)
Aus dem Russischen von Gianna Frölicher & Joseph Wälzholz
„Gerichtstheater“ war in der jungen Sowjetunion eines der populärsten Unterhaltungsgenres.
Landesweit wurden kleine Broschüren mit Agitationsgerichten (Agitsudy) in
Auflagen von teilweise bis zu 100'000 Exemplaren herausgegeben. Die Stücke
gehören in den Bereich der Agitation und bilden die Grundlage für die enge
Verbindung von Theater und Gericht, die bis heute in Russland zu beobachten
ist. Die Stücke sind aber zum Teil auch sehr komisch, geradezu karnevalesk,
wenn zum Beispiel Gott oder eine Mücke vor Gericht gestellt werden. Die
drei hier ausgesuchten Agitgerichte stehen für unterschiedliche Phasen des
Genres und zeigen, dass sich Theater und Gericht immer weniger voneinander
unterscheiden lassen. Als das Genre in den 1930er Jahren verschwindet, wird
es von einer theatralen Justiz, Laiengerichten und Schauprozessen regelrecht
abgelöst. Die Stücke sind aber nicht nur relevant für die Überblendung von
Theater und Justiz in der sowjetischen Gesellschaft, sondern auch für das
Theater der 1920er Jahre. Sie bilden einen Kontrapunkt zu Brechts Lehrstücken,
sind politisierter Ausdruck der Einbeziehung der Zuschauer, die immer mehr
zu einer Illusion gerinnt. Auch Walter Benjamin, der als Zuschauer in das
"Gericht über eine Kurpfuscherin" gerät, ist sich, wie man im
Moskauer Tagebuch nachlesen kann, zunächst nicht ganz sicher, ob er im Theater
oder in einer Gerichtsverhandlung sitzt.
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