Klaus Mylius
Der Streit der Sinnesorgane um
den Vorrang
Damals stritten die Lebenshauche darum, wer der Vornehmste sei. “Ich bin
der Vornehmste – ich bin der Vornehmste!”, so (stritten sie).
Da begaben sich diese Lebenshauche zum Vater PrajÁpati und sprachen: “Erhabener,
wer von uns ist der Vornehmste?” Er sprach zu ihnen: “Derjenige von euch,
bei dessen Auszug der Körper schlechter als ganz schlecht erscheint – der
ist von euch der Vornehmste.”
Da zog die Sprache aus. Nachdem sie ein Jahr lang unterwegs war, kehrte
sie zurück und sprach: “Wie habt ihr ohne mich leben können?” – “Wie Stumme,
die, nicht sprechend, mit dem Atem atmen, mit dem Auge sehen, mit dem Ohr
hören, mit dem Geist denken – so!” Da trat die Sprache (wieder) ein.
Da zog das Auge aus. Nachdem es ein Jahr lang unterwegs war, kehrte es zurück
und sprach: “Wie habt ihr ohne mich leben können?” – “Wie Blinde, die, nicht
sehend, mit dem Atem atmen, mit der Sprache sprechen, mit dem Ohr hören,
mit dem Geist denken – so!” Da trat das Auge (wieder) ein.
Da zog das Ohr aus. Nachdem es ein Jahr lang unterwegs war, kehrte es zurück
und sprach: “Wie habt ihr ohne mich leben können?” – “Wie Taube, die, nicht
hörend, mit dem Atem atmen, mit der Sprache sprechen, mit dem Auge sehen,
mit dem Geist denken – so!” Da trat das Ohr (wieder) ein.
Da zog der Geist aus. Nachdem er ein Jahr lang unterwegs war, kehrte er
zurück und sprach: “Wie habt ihr ohne mich leben können?” – “Wie Kinder,
die ohne Verstand mit dem Atem atmen, mit der Sprache sprechen, mit dem
Auge sehen, mit dem Ohr hören – so!” Da trat der Geist (wieder) ein.
Indem nun der Atem ausziehen wollte, riß er, wie ein edles Pferd die Pflöcke
der Fußfessel mit sich fortreißt, die anderen Sinnesorgane mit sich fort.
(Diese) kamen bei ihm zusammen und sprachen: “Erhabener, sei (der Vornehmste)!
Du bist von uns der Vornehmste. Zieh nicht (von uns) aus!”
Da sprach zu ihm die Sprache: “Woran ich besonders reich bin, daran bist
(auch) du besonders reich.” Da sprach zu ihm das Auge: “Womit ich die Grundlage
bin, damit bist (auch) du die Grundlage.”
Da sprach zu ihm das Ohr: “Womit ich das Gelingen bin, damit bist (auch)
du das Gelingen.” Da sprach zu ihm der Geist: “Womit ich der Zufluchtsort
bin, damit bist (auch) du der Zufluchtsort.”
Fürwahr, man bezeichnet sie nicht als Sprachen, nicht als Augen, nicht als
Ohren, nicht als Geist (pl.). Als Lebenshauche (Sinnesorgane) bezeichnet
man sie. Der Lebensodem stellt ja sie alle dar.
(aus: Chandogya-Upanisad, übersetzt von Klaus Mylius, Älteste
indische Dichtung und Prosa,
3. Auflage, © ERATA
2001)