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Jiří Polák

Es muss schon einiges zusammenkommen, damit ich auf Reisen gehe. Nicht wie früher. Früher war ich pausenlos unterwegs, ich lebte unterwegs, bewegte mich unermüdlich von Ort zu Ort, wie ferngesteuert, alles nur Zwischenstationen, Möglichkeiten, Entwürfe. Das ließ mit den Jahren ein wenig nach, nachdem mir klar wurde, dass ich ohnehin keinen idealen Ort finden würde und nicht die ganze Welt bereisen kann, ohne der Rastlosigkeit zu verfallen. Ich musste einen Ort auswählen, um mich dort niederzulassen, ihn mein Zuhause nennen und nur zweckmäßig verlassen. Ich gab damit zwar viel auf, gewann dafür aber etwas mehr Ruhe. Ich konnte wieder schlafen.
Ein Straßenhinweis kurz vor Dresden bietet mir zur Wahl entweder in Richtung Bautzen und Görlitz oder nach Prag zu fahren. Ich war schon länger nicht mehr in Prag. Nachdem ich mich für Berlin entschieden hatte, ließ mein Heimweh nach. Daran änderte auch die neue Autobahn nichts, die eine Heimreise deutlich verkürzte, im Gegenteil. Die früher so fatale Unmöglichkeit einer Rückkehr war schwer zu ertragen. Der Mauerfall und später die Autobahn haben das Unmögliche wieder möglich und auch noch ganz bequem gemacht. Die Sehnsucht wich allmählich den Erinnerungen.
Eine Tankstelle in Sicht, endlich. Ich kann meine Fahrt unterbrechen, um meine Gedanken zu sortieren. Um über die Reise nochmals nachzudenken, solange ich sie noch abbrechen kann. Ich tanke voll und gehe dann zu einer Imbisstheke im gleichen Haus, um das Frühstück, das ich heute in aller Eile vergessen habe, nachzuholen.
Gummiartige Brötchen wie überall, Billigsalami, etwas Butter und Käse, dazu schlechter Tankstellenkaffee, dann lieber Tee und eine kleine Konfitüre, egal welche, sie alle sind zu süß. Dennoch mag ich Tankstellen und esse dort manchmal. Das ist mir von meiner Reiserei doch übrig geblieben. Ab und zu ziellos aus der Stadt hinausfahren, auf der ersten Tankstelle Rast machen, die Menschen dort beobachten, über ihre Reiseziele rätseln, auch über meine eigenen, sollte es wieder mal so weit sein.
In der Imbissecke sitzen außer mir nur drei Leute, ein Geschäftsmann und ein reifes Paar. Kurz nach neun herrscht hier Flaute. Der Andrang der Lastwagenfahrer vom Morgen ist vorbei und für ein üppiges Essen ist es noch zu früh. Wer dennoch jetzt absteigt, hat entweder viel Zeit oder Zweifel an seiner Reise, so wie ich. Der Geschäftsmann mit Anzug, Schlips und Laptop liest Financial Times. Er liest sie so, damit es alle mitkriegen. So sieht nicht unbedingt einer aus, der regelmäßig Financial Times liest. Vielleicht ist der Mann arbeitslos und will sich seine Misere nicht eingestehen, also liest er wenigstens Financial Times. Oder er ist zu einem wichtigen Termin unterwegs, den er fürchtet, und macht sich Mut, indem er demonstrativ Financial Times liest. Oder er ist nur ein Angeber, der auf Geschäftsmann macht, um gut getarnt dubiose Geschäfte abzuwickeln.
Mein summendes Handy lenkt mich von dem Angeber ab.
Hi, Danny, meldet sich eine vertraute Frauenstimme. Hab ich dich geweckt oder ...?
Kein Problem, Linda, sage ich.
Stör ich etwa?, fragt sie dennoch.
Ich verneine es, versuche locker und unbekümmert zu klingen.
Ich mag Linda, außerdem ist sie als Chefin einer Fotoagentur auch meine Auftraggeberin. Eine von mehreren, aber die netteste von allen.
Thomas hat angerufen ..., sagt sie langsam.
Thomas ist Lindas Mann. Er ist seit Wochen im Sudan oder Kenia als Kriegsfotograf unterwegs. Hat sich zuletzt, nicht wie sonst immer, ein paar Tage nicht gemeldet, sie machte sich Sorgen.
Er ist wohlauf, sagt sie dann.
Das ist gut, sage ich.
Und lasse mich schon wieder ablenken. Das reife Paar am Tisch mir gegenüber füttert sich gegenseitig mit einem gemischten Salat. Sie schiebt ihm eine volle Gabel in den Mund, dann revanchiert er sich. Dann ist sie wieder dran. Beide Münder öffnen sich im Takt der Partnerhände, wie bei Marionetten. Oder bei Kleinkindern. Das Ehepaar, wie denn sonst, müsste sich dabei wenigstens amüsieren, lächeln, aber das tun die beiden nicht. Ihr Ritual ist zwar freundlich, aber ernsthaft, hat mit Spaß nichts zu tun.
Bist du noch da?, fragt Linda. Ich meine, er klang ganz anders als sonst, verstehst du? Ich dachte, er würde mir von einem schlimmen Vorfall berichten oder mich trösten ...
Er ist im Dauerstress, sage ich.
Du hast recht, sagt sie.
Die sorgfältige Fütterung fasziniert mich. Der Rhythmus der Hände, der Münder und der Schlunde. Die Ernährung als Akt der Geborgenheit und gegenseitiger Abhängigkeit, die öffentlich zelebriert wird. So als möchte man sich vorsorglich abgrenzen, sich gegen alles und jeden absichern. Der Fotograf in mir, nicht der zaghafte Reisende, möchte ein Foto von den beiden machen, ein herrliches Motiv. Doch sie sitzen mir zu nah, sie würden es kaum gutheißen und sich eher bedroht fühlen. Und sie um Erlaubnis zu bitten, würde gleich ihren Auftritt zerstören, der ebenso spontan wie einstudiert wirkt. Außerdem redet Linda weiter, sie kann ihre Unsicherheit nicht mehr überwinden und vermutet insgeheim andere Gründe hinter dem veränderten Verhalten ihres Mannes, ohne diese allerdings aussprechen zu wollen, um damit vor mir nicht als kleinlich oder eifersüchtig dazustehen. Aber will ich es hören?
Hier die Münder, kindlich bedient, um bloß keine Entfernung zu riskieren, dort die Entfernung voller Misstrauen, das Reden als Schweigen, Angst statt Nähe. Wie sich die Bilder der Liebe und der Einsamkeit ähneln.
Sei mir nicht böse, Linda, sage ich. Ich bin gerade unterwegs. Kann ich dich vielleicht später anrufen?
Bist du auf Motivsuche?, fragt sie.
Motivsuche? So ungefähr, ja, lüge ich ertappt.
Dann viel Glück, sagt sie.
Ich kann sie nicht trösten, ihr nicht geben, was mir selbst fehlt. Ich bin schließlich auf der Flucht vor ihrem Auftrag und von ihrer Ehe, die uns beide zermürbt, den Rest kann man unter willkommene Abwechslung verbuchen.
Nachdem die Ehefrau auf der Toilette verschwunden ist, isst ihr der Ehemann den Salat heimlich weg, nun gierig und sein Mund völlig aus dem Rhythmus, seine flatternden Augen haben die Damentoilette dabei fest im Visier. Und als er kurz meinen Blick erwischt, lächelt er mich voller Schuldgefühle an.
Das reicht. Ich muss weiter, sonst komme ich noch zu spät. Sobald ich wieder in meinem Auto sitze, lege ich eine CD ein, um mich zu entspannen. Genug fremder Geschichten, die mich nichts angehen. Ich höre Hélène Grimaud Klavierspielen, und muss an Wölfe denken. Sie züchtete die Tiere voller Hingabe in ihrer Wolfstation. Die Pianistin war in ihrem früheren Leben bestimmt eine von ihnen. Ihre Wolfsaugen verraten sie. Auch deshalb bin ich im Freistaat Sachsen unterwegs, wegen der Wölfe, aber nicht nur deshalb.
Noch ein Straßenschild, die letzte Möglichkeit, mein Reiseziel zu ändern. Doch Prag ist kein Thema, nicht heute, trotz der Sonne, die heute wohl auch dort scheint. Ein goldener Oktober versöhnt, vereint und lässt vergessen. Oder ich mache mir nur was vor, würde meine Ex-Frau sagen. Sie tat es nicht und ist gleich nach der Wende zurückgekehrt. Sie war mir schon immer einen Schritt voraus.
Ich fahre über Pirna und Sebnitz und Neustadt in Sachsen nach Ebersbach und weiter nach Zittau. Dabei ginge es wohl über die Autobahn nach Bautzen und Görlitz viel schneller. Ich möchte aber mehr von der Landschaft als nur den Horizont sehen, in der vagen Hoffnung, dass sie sich mir aufschließt, damit ich in sie besser eindringen kann, um ihre Geheimnisse zu stehlen. Die Eroberung einer fremden Landschaft gleicht bei mir einer Penetration, wie simpel. Auch einer der Gründe, weshalb ich früher nie genug davon kriegen konnte. Der Mann als Eroberer, Abenteurer, einsamer Cowboy, egal ob auf dem Pferd oder im Auto, der Fotograf als Jäger, die archaische Geborgenheit beflügelt mich immer wieder.
Also weiter. Die Straße schlängelt sich langsam durch die hügelige Landschaft, von dem Grün der Wiesen, von all den weidenden Kühen und Schafen und dem Schwarzweiß der alten, zum Teil renovierten Fachwerkhäuser mit den sichtbaren Balken im Putz flankiert. Die Täler werden immer schmaler, die Hügel dafür immer höher und schräger, immer neue Hindernisse in Sicht, so als möchten sie dem Reisenden den Ausweg erschweren und ihm nahe legen, sein Vorhaben noch einmal zu überdenken, bevor es zu spät ist. Bevor man sich blind in eine Affäre stürzt, bevor man sich bindet.
Ich bedauere, dass ich Linda so abgewimmelt habe. Gerade wenn sie mich braucht. Ich hatte keine Zeit, das stimmt, und ich wollte ihr nicht die ganze Wahrheit sagen, weil ich sie selbst nicht kenne, außerdem würde ich sie damit nur irritieren oder gar verletzen und das Gespräch damit an mich reißen, was ich doch verhindern wollte. Ich rufe sie noch heute an und werde für sie alle Zeit der Welt haben, so wie Linda für mich alle Zeit der Welt hatte, als meine Frau sich nach Prag absetzte. Eigentlich wollten wir gemeinsam die Lage dort testen, um zu sehen, ob eine Rückkehr nach so vielen Jahren überhaupt möglich wäre. Dabei ahnten wir insgeheim, wenn wir uns einmal darauf einließen, würden wir dort auch bleiben, egal was käme. Und davor schreckte ich im letzten Augenblick zurück. Nicht nur, weil ich gerade einen lukrativen Auftrag von Linda bekam, eine Unterwäschekollektion für ein Modejournal abzulichten. Aber auch. Und prompt fühlte sich Linda an meiner verhinderten Heimkehr und zerbrochenen Ehe schuldig und tröstete mich derart, dass sie ihre eigene Partnerschaft aufs Spiel setzte. Gut, Thomas war schon damals öfter fort als zu Hause, so war ihr spontaner Liebeseinsatz nicht ganz uneigennützig, dennoch liebte sie ihn und heiratete kurz danach.
Jetzt bin ich dran. Auch einer der Gründe, die mich in die Flucht treiben. Nicht nur ihr Auftrag, ein Kalender, eine triviale Sache, aber genau das ist auch mein Problem. Nur ein Kalender. Schon wieder ein Kalender. Immer wieder ein Kalender. Dazu Lindas Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann, nicht erfüllen will, weil ich damit alles aufs Spiel setzen müsste, wie sie damals. Zugegeben, es gibt nicht mehr viel, was ich noch aufs Spiel setzen könnte, nur meine Freiheit, das heißt den Rest meiner Unabhängigkeit von ihr. Warum sollte gerade jetzt gelingen, was schon vor Jahren gescheitert ist? Wir sollten uns nichts vormachen.
Ich will mich nur noch auf die Autofahrt konzentrieren und alles andere aus meinem Kopf verbannen, bin aber immer noch leicht verstimmt. So als hätte ich mich an der Raststätte an dem Ehemann, der dort unbeherrscht die Spielregeln seiner Ehe brach, indem er seiner Frau den gemeinsamen Salat heimlich wegaß, mit seinen Schuldgefühlen angesteckt.
Seitdem Lindas Mann in Afrika weilt, spüre ich fast in jedem Gespräch mit ihr einen neuen beunruhigenden Ton. Eine gewisse Ungeduld, als wäre sie diese Lage nicht bereits seit Jahren gewöhnt. Überdruss vielleicht, Ermüdungserscheinungen einer strapazierten Ehe oder die zunehmende Gewissheit, von Thomas betrogen zu werden, und zwar nicht erst jetzt plötzlich, wie aus heiterem Himmel, sondern seit Jahren schon, immer wieder, bei jedem Auftrag, den sie ihm selbst erteilt.
Wie dem auch sei, seufze ich.
Einer sinnvollen und vor allem dauerhaften Beziehung zwischen mir und Linda fehlt etwas, Zuversicht vielleicht, etwas mehr Hoffnung und Leidenschaft, vermutlich alles. Wir sind Freunde und Geschäftspartner, gute Freunde, das ist nicht wenig, mehr aber auch nicht. Sie war für mich damals nur eine Ersatzfrau, dazu in festen Händen, keine günstige Konstellation, um gleich Eruptionen der Leidenschaft auszulösen. Jetzt soll ich Linda trösten und ihren umtriebigen Thomas ersetzen, kurzweilig oder endgültig, egal. Einerseits träume ich manchmal davon, die sanfte Tochter eines britischen Soldaten, der nach seinem Militäreinsatz im Kalten Krieg als Gärtner deutsche Hecken in Berlin stutzte, und einer Deutschlehrerin, die sich vor Kurzem von ihm scheiden ließ, um sich in ihrer Freizeit voll und ganz jungen Kriminellen mit Migrationhintergrund zu widmen, nur für mich allein zu haben. Andererseits aber wäre das, worauf wir unsere Beziehung aufbauen würden, als Grundlage fürs Leben zu wenig. Nein, zwei Ersatzspieler sollten sich nicht zusammentun, um wenigstens gemeinsam ein Spiel zu gewinnen. Das Spiel, das sie so gewinnen, bleibt nur ein Ersatzspiel.
Und dann hebt sich die Landschaft allmählich, so als möchte sie nun endlich den engen Korridor unten am Fluss verlassen und etwas mehr an Bedeutung gewinnen. Sie präsentiert ihre hohen Feldmassive links und rechts mit Stolz wie latente Krallen, die jeden Augenblick zuschnappen könnten. Lausitzer Gebirge, nehme ich an. Ich schalte automatisch in den dritten Gang runter und gleich wieder zurück, es sind schließlich keine Alpen. Die Berglandschaft badet in der milden Sonne, die tiefen Wälder zelebrieren die ganze Pracht einer vollkommenen Herbstpalette, als gäbe es kein Waldsterben, nicht hier. Zugleich drängt Nebel aus den Wäldern und breitet sich rasch aus, wird dabei immer dichter, wie klebrige Zuckerwatte, von einer Zauberhand bestellt.
Im Nu herrscht überall herbstliche Tristesse und verdrängt mühelos die ohnehin schwächelnde Oktobersonne. Noch sah ich überall die Fachwerkhäuser entlang der Straße, jetzt sehe ich keine mehr, nicht einmal die Schafe und Kühe, alles im Nebel versunken, was nicht unbedingt zur Straße gehört, als führe sie direkt in den Himmel. Aber auch sie ist kaum noch zu sehen, nur erahnen kann man ihre Windungen.
Ich muss wach bleiben.

aus: Wolfsgrenze. Roman

 

 


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