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Kathrin Schmidt

wurde 1958 in Gotha geboren, studierte Sozialpsychologie in Jena und ist seit 1994 freie Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und fünf Kindern in Berlin. Nach drei Lyrikbänden hat Kathrin Schmidt 1998 mit „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“ (Kiepenheuer & Witsch) ein von der Fachkritik zumeist positiv aufgenommenes Romandebüt vorgelegt. Beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb erhielt sie 1998 für diese Prosa den Preis des Landes Kärnten zugesprochen.

Preise:

Anna-Seghers-Preis (1988), Leonce-und-Lena-Preis (1993), Lyrikpreis der Stadt Meran (1994), Förderpreis zum Hans-Erich-Nossack-Preis (1997), Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1998), Förderpreis des Heimito-von-Doderer-Literaturpreises (1998), Christine-Lavant-Förderpreis (2001), Kritikerpreis (2001), Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis (2003).

Bücher:

„Poesiealbum 179“, Gedichte, Verlag Neues Leben, Berlin 1982; „Ein Engel fliegt durch die Tape-tenfabrik“, Gedichte, Aufbau Verlag, Berlin und Weimar 1987; „Flußbild mit Engel“, Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 1995; „GO-IN der Belladonnen“, Gedichte, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000; „Sticky Ends“, Kurzroman, Eichborn Verlag, Frankfurt a. Main 2000; „Koenigs Kinder“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002; „Seebachs schwarze Katzen“, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005.

Der Anteil der Frauen am Verschwinden der Männer

Axel Helbig im Gespräch mit Kathrin Schmidt

Ich traf Kathrin Schmidt am 23. Juni 2002 in ihrem Haus in Berlin-Mahlsdorf, in dem sie mit ihrem Mann und fünf Kindern lebt. Wir saßen uns am großen Familientisch auf drei Meter gegenüber. Ab und an kam der fünfjährige Sohn, um etwas zu fragen oder soeben Gezeichnetes zu zeigen. Auffällig für mich: die unerschütterliche Ruhe von Kathrin Schmidt und ein gewisses In-sich-gekehrt-Sein. Oft sei es so gewesen, sagt sie, „daß die Gedichte im Kopf entstanden sind. Nicht vor dem Computer oder vor der Schreibmaschine. Zumeist während völlig anderer und banaler Tätigkeiten. Wenn ich ans Schreiben ging, brauchte ich nur noch den fertigen Text aufzuschreiben.“ Wenn ein Gedicht erst einmal auf dem Papier stehe, dann ändere sie es selten noch einmal, sagt sie, während ich zwangsläufig an Mozart denke. Auch der umfangreiche Roman „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“ sei in einem Zug niedergeschrieben worden: „Es gab keinerlei schriftliche Aufzeichnungen oder Vorarbeiten … Der Roman liegt heute so vor, wie ich ihn niedergeschrieben habe.“ Mit der Formulierung „völlig anderen und banalen Tätigkeiten“ ist das Aufziehen von fünf Kindern, das Führen des umfangreichen Haushaltes und die Ausübung eines Vollberufes neben dem Schreiben nur vage angedeutet. Offenbar blieb in diesem Regime alltäglicher Pflichten keine Zeit, ein Arbeitsjournal zu führen, dafür umso mehr Zeit, die Gedanken frei zu jonglie-ren. Obwohl Psychologin, lehnt Kathrin Schmidt Urs Widmers Ratschlag, ein Autor solle eine „ausführ-liche und sorgfältige Psychoanalyse“ unternehmen, vehement ab, weil sie glaubt, „daß sich gerade aus den unaufgeklärten Stellen sehr viel ergibt.“ Auf ihre neuesten Gedichte angesprochen, beschwört sie eine nunmehr gefundene „Art des Schreibens“, welche sehr viele intuitive, unbewußte Momente habe, die aber genau dieser Unbewußtheit mit ziemlicher Schärfe nachzuspüren versuche.

Axel Helbig: Frau Schmidt, welche Notwendigkeiten bestanden für Sie, die „Gunnar-Lennefsen-Expedition“ zu unternehmen?

Kathrin Schmidt: Meinen Hang zu diesen Geschichten hat es schon lange Zeit gegeben. Man kann das auf unterschiedlichen Ebenen betrachten. Einerseits der biographischen Eingebundenheit, in die eine solche Schreibphase fällt. Andererseits der Ebene des direk-ten Entstehens. Während meines Erwachsenwerdens hat es für mich zwei Tabus gege-ben, die sich mir innerhalb meiner Familie offenbarten. Das war zum einen eine lange Haftstrafe meines Vaters in den 50er Jahren, von der ich im Zusammenhang mit meiner Bewerbung für ein Auslandsstudium zufällig Kenntnis erlangte. Da stand dann auf einmal in der Spalte „Vorstrafen“ für meinen Vater: 25 Jahre. Das war 1976. Das Jahr, in dem auch der Roman spielt. Das andere Tabu betraf die Herkunft. Ich wußte, daß meine Ur-großmutter aus Ostpreußen hergekommen war, konnte mir aber unter dem Begriff Ost-preußen nichts vorstellen. Es gab kein Geschichtsbuch, das darüber Auskunft gegeben hätte. Es gab auch niemanden, der mir dies hätte aufklären wollen, da das Thema inner-halb der Familie tabuisiert worden war. Dies war für mich der Ausgangspunkt, mir ver-schiedene Geschichten zusammenzureimen. Mir war klar, daß meine Vorfahren mütterli-cherseits von irgendwoher gekommen waren. Meine Urgroßmutter eröffnete manchmal ihre Erinnerungen mit der Formel: „Wie wir vor den Russen geflohen sind“. Ich habe dann meine Eltern gefragt, in welchem Zusammenhang man denn vor den Russen fliehen mußte – mit der Frage im Hinterkopf: „Wart Ihr denn Kriegsverbrecher?“ Worauf die Eltern dann schnell erklärten: „Ach, die Omi erzählt Quatsch. Natürlich sind wir nicht vor den Russen geflohen. Denn die haben uns ja selbstverständlich vom Faschismus befreit.“ Mehr war nicht zu erfahren. Ich merkte dann aber sehr schnell, daß darüber nicht gesprochen werden durfte. Da gab es im übrigen eine Parallele bei jüdischen Über-lebenden des Holocaust, die ihren Kindern ebenfalls nicht berichten wollten, was sie erlebt hatten. Auch mein Vater wollte nicht, daß über seine traumatisierenden Erfahrun-gen im Gefängnis in der nächsten Generation gesprochen wird. Ich denke, daß insbeson-dere Frauen während der Flucht aus Ostpreußen Furchtbares erlebt haben, und deshalb darüber geschwiegen wird. Zum Vertriebenenschicksal gehört auch, daß diese unbotmä-ßigen Fragen gerade deshalb nicht gestellt werden durften, weil die Familie glaubte, nicht auffallen zu dürfen. Ich habe als Kind gemeinsam mit meiner Urgroßmutter jene Leute, die unsere Familie damals aufgenommen hatten, besucht. In der Unterhaltung dort war die Vertreibung schon ein Thema und ich habe da manches aufgeschnappt und nachge-fragt. Im Dunkeln war aber vor allem geblieben, warum die da weggehen mußten.
Die Geschichtenfülle, von der das Buch lebt, sehe ich Nachhinein auch als einen Reflex auf die Öffnung, die von Gorbatschow ausgegangen war. Auf die Tatsache, daß man sich plötzlich gegenüber dem Gedanken aufzuschließen begann, daß irgendwie alles einen Zusammenhang bildet, daß man nicht, um des puren Gleichgewichts Willen, auf Positio-nen beharren mußte. Daß es möglich sein konnte, sich als der Schwächere zu zeigen. Daß es möglich war, von der Position des vermeintlichen „Siegers der Geschichte“ abzuwei-chen.
Die Tabus hatten in mir das Grundgefühl erzeugt, vor Kulissen zu leben. Wenn die eine verschoben wurde, war dahinter eine andere, die ich noch nie gesehen hatte. Diese zweite Kulisse schien jedoch nicht weniger wahr zu sein, als die zuvor wahrgenommene. Es ergab sich ein ständiger Wechsel und ein ständiges Neubewerten meiner eigenen Ge-schichte. Aus diesem Empfinden heraus begann ich, das Buch zu schreiben. Wobei ich mich selbst von Beginn an als kleine Figur gesehen habe. Das Buch ist nie Ich-zentriert angelegt gewesen. Eher war da ein Gefühl des Eingebundenseins in einen sich immer weiter auftuenden Kosmos. Zum Beispiel die plötzliche Feststellung, daß ja die Hälfte der Familie nach Amerika ausgewandert war. Ein wesentlicher Impuls war auch die Mauer-öffnung. Dieses Gefühl, daß man nun endlich unter diesem Drahtkorb hervorkommen konnte.
1986 hatte ich die ersten 30 Seiten geschrieben und auch ein Grundgerüst des Romans konzipiert. Der Text hat dann lange Zeit gelegen, sich aber im Kopf ständig weiterge-formt. Mitte der 90er Jahre, als mein damals jüngster Sohn eingeschult worden war, schrieb ich – im wesentlichen vormittags – den Roman in rascher Folge nieder.

Axel Helbig: Hatte das Grundkonzept von 1986 bereits die einzelnen Stationen der Expedition enthalten? War die phantastische, bis ins Absurde reichende Anlage des Romans von Ihnen damals bereits so konzipiert worden?

Kathrin Schmidt: Ja, dies alles ist bereits im damaligen Konzept enthalten gewesen. Die Biographien der wichtigsten Figuren waren im wesentlichen vorhanden. Das auf der imaginären Leinwand vorwärts und rückwärts zu berichtende Geschehen. Allerdings sind während des Schrei-bens immer neue Figuren dazugekommen. Auch diesen Kosmos von Göttinnen gab es damals noch nicht. Das Grundmotiv, anhand der imaginären Leinwand Exkursionen in die Familiengeschichte zu unternehmen, war angelegt.

Axel Helbig: Eines der Hauptmerkmale des Romans, eines der Gründe auch, weswegen der Roman sich in der deut-schen Literatur behaupten wird, ist der ihn auszeichnende unaufhörliche Sprachfluß. Darin, aber auch in der schier unerschöpflichen Zahl handelnder Personen, drängt sich für mich als Vergleich Garcia Mar-quez Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ auf. Auch dieser Roman ist vom Neben- und Ineinander verschiedenster Zeit- und Wirklichkeitsebenen geprägt. Auch dort eine Familiensaga als fesselndes Pan-optikum aus Wirklichkeit, phantastischer Fiktion und Groteske. Fühlen Sie sich in Ihrem Schreiben dem magischen Realismus der Lateinamerikaner verwandt?

Kathrin Schmidt: Sicher ist aus dieser Richtung ein Impuls gekommen. Ich habe „Hundert Jahre Einsam-keit“ Mitte der 80er Jahre – also unmittelbar vor der Niederschrift der ersten Seiten und des Grundkonzeptes gelesen. Das war für mich unwahrscheinlich beeindruckend. Ich war davon gefangen, in der Art eines kritiklosen und rauschhaften Lesens. Auch Irmtraud Morgners Bücher und Günter Grass’ „Butt“ habe ich mit dieser großen inneren Bewe-gung gelesen. Das war so etwas wie Sucht. 1995, als ich das Buch im wesentlichen nieder-schrieb, lag die Begegnung mit diesen Büchern jedoch mehr als zehn Jahre zurück.

Axel Helbig: Wie kann man sich den Ausgangspunkt der Arbeit am Roman vorstellen? Wurde diese Fülle von Fak-ten und Ideen zuvor in Zettelkästen oder in einer Art familiengeschichtlichem Tagebuch sukzessive ange-reichert?

Kathrin Schmidt: Nein. Ich habe keinen Zettelkasten benutzt. Es gab keinerlei schriftliche Aufzeichnungen oder Vorarbeiten. Ich habe nur am Computer gesessen und geschrieben. Was ich vorhin als Biographien der Hauptpersonen bezeichnet habe, das waren Aufzeichnungen von ca. zwei A4-Seiten Länge, ein mehr stichpunktartiger Abriß zwischen Geburt und Tod. Dies betraf die Figuren der Therese, der Josepha und des Fritz. Wie sich das Geschehen um diese drei Personen über die einzelnen Expeditionen hin entwickeln wird, diese grobe Linie war von Beginn an ziemlich klar. Alles andere hat sich am Computer entwickelt und wurde von mir in der im Buch abgedruckten Reihenfolge geschrieben. Wenn ich heute auf den Roman schaue, staune ich sehr, daß ich den Faden nicht verloren habe. Ich habe meine Verwandten nicht befragt. Wenn es Anklänge an meine eigene Familiengeschichte gibt, dann war es das, was ich ohnehin wußte, was in mir aufgehoben war. Ein Auslöser für die Arbeit am Roman war der Tod meiner Urgroßmutter, die 1992 im Alter von fast 100 Jahren gestorben ist. Vorher hätte ich diesen Roman nicht schreiben können.

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Lesen Sie das gesamte Gespräch im Interviewband "Der eigene Ton", hg. von Axel Helbig.

 

 

 


Zum Interview-Band:
- Der eigene Ton