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Gerhard Weinreich

Schwichtenbergs letztes Spiel

Erstes Kapitel

Es war März. An der Eiche neben der Burgruine baumelte der lahme Schmied. Morgen wäre er sechzig geworden. „Ich bin ein Feigling!“ stand auf dem Schild, das um seinen Hals hing. Er hatte sich geweigert, zum Volkssturm zu gehen. Ich rannte an ihm vorüber und achtete nicht darauf, daß er dort oben im Wind schaukelte. Überall in Daber quollen die Leute aus den Häusern auf die Straßen und liefen zum Bahnhof, wo unvermutet ein Zug eingetroffen war. Die meisten trugen Koffer und Rucksäcke, voll von Hab und Gut, das sich noch irgendwie schleppen ließ. Andere zogen hastig bepackte Leiterwagen hinter sich her. Zuerst sollte uns der Zug nach Naugard bringen und dann weiter nach Stettin. Dort erhofften wir erst einmal eine Verschnaufpause vor der anrückenden Roten Armee.

Bereits am Morgen hatte ich den Ortsgruppenleiter beschworen, endlich einen Treck zu bilden und uns mit Pferdefuhrwerken in Richtung Oder ziehen zu lassen. Die Russen stünden schon vor Kramonsdorf, ihre Panzer würden bald hier sein. Daraufhin verzerrte sich sein aufgedunsenes Gesicht zu einem runzligen Teig. Ob ich den Verstand verloren hätte, brüllte er mich an. Sein Atem stank nach Schnaps. Nicht mein Verstand, sondern Daber sei verloren, murmelte ich vor mich hin. Ich bestand darauf, daß wir uns beeilen sollten. Noch sei es möglich zu fliehen. Japsend rang er nach Worten. Dann überschlug sich seine Stimme: Er klang wie ein kotzender Hund. Auch wenn ich Pfarrer sei, sollte ich mich davor hüten, volksschädliche Äußerungen zu machen. Er könne mich ebensogut an der Eiche neben dem Schmied aufhängen lassen. Meine Hände krallten sich am Tisch fest, damit sie dem Ortsgruppenleiter nicht an die Kehle springen konnten. Denn noch mußte ich mich beherrschen – noch. Aber schon in wenigen Stunden, wenn hier die Rote Armee durchziehen würde und er uns bis dahin immer noch nicht erlaubt hätte zu fliehen, würde ich ihm den Hals umdrehen. Mein Schweigen besänftigte ihn, sein Ton wurde milder. Zwar habe er durchaus Verständnis für mich, daß ich aufgrund meiner Flucht aus Ostpreußen Angst vor den Russen hätte, gab er sich gönnerhaft. Aber dies sei kein Grund, die Nerven zu verlieren. Er wisse ganz genau, daß die Wehrmacht bereits in der Nähe sei und Vorbereitungen getroffen habe, Daber zu verteidigen.

Natürlich war das eine Lüge: Die Wehrmacht hatte der Roten Armee nichts mehr entgegenzusetzen. Niemand wußte das besser als ich – schließlich war ich bis vor einigen Wochen Major in einem Infanterieregiment gewesen. Unsere Lage war aussichtslos und jeder weitere Widerstand irrsinnig, nachdem die Rote Armee Ostpreußen überrannt hatte. Endlich war ihr Ziel erreicht: den Krieg nach Deutschland zu tragen. Wir würden es bitter bereuen, daß wir die Sowjetunion angegriffen und ein tiefes Totenmeer hinter uns gelassen hatten. Nur Schwachköpfe konnten jetzt noch weiterkämpfen. Also desertierte ich und zog mir einen Talar über.

Mein Regiment kämpfte in der Nähe von Königsberg. Einen Tag und eine Nacht leisteten wir Widerstand; dann gab es das Regiment nicht mehr. Ich war einer der wenigen Überlebenden und irrte nach der Schlacht noch Stunden umher. „Steh endlich wieder auf!“ schrie ich auf den toten Obergefreiten Fach ein. Er hatte nur ein halbes Gesicht. „Zu Hause warten deine Frau und deine Kinder auf dich!“ Aber er wollte nicht mehr nach Hause und blieb einfach liegen. Ich verachtete ihn, weil ihm seine Familie offenbar nichts mehr bedeutete.

Unter einer Linde verweste Hauptmann Gerber. Ritterkreuzträger und Schöngeist. Er hatte einmal ein Gedichtbändchen veröffentlicht. Deshalb ließ ich ihn die Briefe an die Angehörigen der Gefallenen schreiben. Er traf einen warmen, tröstenden Ton und schaffte es, die obligatorischen Floskeln von Führer, Volk und Vaterland unterzubringen, ohne daß sie störend ins Gewicht fielen. Und es war nur eine Frage der Zeit, wann ich ihm sogar meine Begräbnisreden überließ. Hauptmann Gerber gelang es auch hier, die Gefallenen als Individuen zu würdigen und dabei die Durchhalteparolen so dezent einzustreuen, daß sie die feierliche Stimmung nicht trübten. Nachdem ich mich von ihm mit einem militärischen Gruß verabschiedet hatte, ging ich zu den andern Soldaten und befahl ihnen, wieder lebendig zu werden – aber sie weigerten sich. Das war Meuterei! Dann versuchte ich es im Guten und redete auf sie ein. Ich pries ihnen die Vorzüge des Lebens. Doch ich mußte feststellen, daß sie sich gegenüber Argumenten nicht aufgeschlossen zeigten. Ich war empört, denn dort lagen Soldaten, die für das Land der Dichter und Denker gekämpft hatten. Wie konnten sie es dann wagen, sich einer gut vorgetragenen Begründung zu verschließen? Ich verstand die Welt nicht mehr, denn ich war doch immer so gut zu ihnen gewesen. Warum nur hatten sie sich gegen mich verschworen? Da das Verhältnis zwischen meinen Soldaten und mir nun endgültig zerrüttet war, ließ ich mich gehen und verfluchte sie nur noch. Ich schrie und schrie – bis ich heiser wurde. Irgendwann fiel ich stumm zu Boden und verlor für eine Weile die Besinnung.

...

aus: Schwichtenbergs letztes Spiel, © ERATA 2007

 

 



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