Helder Macedo: "Weiße Flecken von Afrika" (Auszug)
3.
DIE AUTORITÄT, DAS KINO UND DIE FOLGEN VON LAUNEN
Wenn die Zukunft die Vergangenheit auch unvermeidlich hervorbringt, so
verträgt sich die Vergangenheit, ehe man weiß, was sie ist, mit derart geschichtlicher
Vorherbestimmung doch schlecht und kann lediglich eine Frage von Verstimmung
sein, wie bei Onkel Pedro während des Besuchs von Senhor Tomás Vieira.
Onkel Pedro war damals Sekretär meines republikanischen Großvaters, und
Senhor Tomás Vieira lebte vom Kino, oder vielmehr, er zeigte Filme. Er war
ungeheuer schlank; in den zwanziger Jahren war er Schauspieler beim Stummfilm
gewesen, nach Mosambik emigriert, wo er sich einen gepanzerten Lastwagen
anschaffte und die Aufführungen, à la Hanswurst, mit einem Stepptanz in
riesigen Schuhen begann, von der Musik eines Grammophons begleitet. Er fuhr
überall hin, wo man ihn rief, manchmal auch, ohne daß man ihn gerufen hätte,
und stets war es ein großes Trara. Ihm habe ich meinen ersten Film zu verdanken,
Der Kapitän der Wolken. Sofort wollte ich Pilot werden: ich stellte einen
Stuhl vor den anderen, der Hund als Kopilot auf dem hinteren Sitz, und so
beschossen wir die Deutschen mit dem Maschinengewehr. Tomás Vieira starb
1979 völlig vergessen in Lissabon, als ich gerade zum Staatssekretär für
Kultur ernannt worden war. Niemand begriff, welche finsteren politischen
Absichten mich dazu bewegten, zu seinem Begräbnis zu gehen.
Der Großvater war nach Ende des Ersten Weltkriegs in den Verwaltungsstab
aufgerückt und befand sich als Kommissar für die Eingeborenenpolitik in
Ressano Garcia. Der Grenze zu Südafrika wegen war es ein besonders heikler
Auftrag. Die Sache mit Delagoa Bay war noch heiß, die Erinnerung an das
Ultimatum noch frisch. Der Krieg und die diplomatischen Bemühungen der Republik
hätten die portugiesischen Kolonien zwar gerettet, doch gab es gleichfalls
das Abkommen, im Austausch gegen die Eisenbahn und den Hafen von Lourenço
Marques Arbeitskräfte zu den Minen in Rand zu exportieren. Nach dem Waffenstillstand
war England erneut ein notwendiges Übel geworden, doch schamlos und zynisch,
wie es nun einmal war, konnte man ihm, wie zu Guerra Junqeiros Zeiten, nicht
trauen. In Lissabon hatte der Großvater in seiner Jugend Prozessionen gestört,
er war ein Freund von Magalhães Lima gewesen, und durch ihn ist er, glaube
ich, Freimaurer geworden; er kämpfte gegen die Truppen von Lettows im Norden
von Mosambik, verlor im Gefecht bei Negamano das rechte Auge, meldete sich,
sobald er es konnte, beim Roten Kreuz und war bereits an der Seite von Massano
de Amorim in der Offensive von Angoche; er nahm „Brito Camacho brüderlich
in den Arm“, als der als Hoher Kommissar eintraf, und schien nun, geschützt
durch sein Kriegsverdienstkreuz, das Malteserkreuz und das Kreuz des Christusordens,
den Regimewechsel in der Hauptstadt überstanden zu haben. Seine Schuld war
es nicht, wenn die Engländer uns übers Ohr hauten.
Ein Beispiel:
Ein umherziehender Sklavenhändler hatte versucht, den Häuptling einer mehr
zu der Grenze hin gelegenen Gegend mit ein paar Stücken goldenen Pfunds
abspenstig zu machen. Da der Häuptling – „ja, der war ein wirklicher Portugiese!“
– sich jedoch widersetzte, ließ er ihm die Strohhütte anzünden, um ihn gefügig
zu machen, wenn er das nächste Mal mit dem Geld käme. Der Fall war ernst,
denn hätte der Häuptling gesagt, der anderen Seite anzugehören, wäre die
portugiesische Souveränität über jenen entlegenen Spitzteil des Territoriums
nur schwer zu beweisen gewesen. Der Großvater las seine Geschichtsschreiber
wieder, dachte an König Dom João II und den Marquês de Pombal , lud den
Sklavenhändler zu einem opulenten Frühstück ein und gratulierte ihm dazu,
den Häuptling an den ihm gebührenden Platz gestellt zu haben. Dies freilich
reiche nicht aus, nötig sei vielmehr eine Demonstration militärischer Stärke.
In der Gewißheit, daß niemand auch nur im Entferntesten etwas von seinen
wahren Vorsätzen ahnte und eine desaströse, ungerechtfertigte Militärintervention
diesen eher nutzte, war der Sklavenhändler mit dem Vorschlag sofort einverstanden
und übertrug die Einzelheiten seiner eigenen Perfidie auf den Häuptling:
„ein Bandit in den Diensten der Engländer, ein Befürworter der Sklaverei,
der uns Bewohner und Land rauben will“. „Wenn dem so ist, verdient er den
Tod!“ Wäre er, der Händler, bereit, die notwendigen vertraulichen Anweisungen
gleich mitzunehmen und sie mit eigenen Händen zu übergeben, um Wort für
Wort alles zu erklären, was er wußte? Aber selbstverständlich. Die Anweisungen
wurden in seiner Gegenwart mit lauter Stimme niedergeschrieben, und er selbst
half, die Petschaft dem Siegellack aufzudrücken. Nur daß die Anweisungen,
die er in einem zuvor ausgestellten, identischen Umschlag mitnahm, den Verrat
des Überbringers erklärten und in gedrängter Form endeten: „Man beseitige
ihn“. Es war die Geschichte, die die Witwe, schon in Jahren fortgeschrittener
Sklerose, am liebsten erzählte. „Aber Mama, willst du damit sagen, daß der
Papa befahl, einen Menschen zu töten?“ „Aber ja, meine Tochter, er besaß
doch die Macht dazu und noch zu ganz anderen Dingen!“
Ganz sicher besaß er die Macht, um Senhor Tomás Vieira kommen zu lassen.
Der Grund für das Ereignis war Onkel Pedros Charakter. Der war in eine „hübsche,
anmutige Eingeborene“ verliebt, „schlau wie alle aus ihrer Rasse, doch sehr
hellfarbig“, die ihm den Kopf verdreht hatte, ohne Ehe jedoch nichts gewährte.
In ideologischer Hinsicht hatte der Großvater dagegen nichts einzuwenden,
Ehrenwort eines Demokraten!, der Junge, ein bißchen schüchtern, aber ginge
am Ende noch in die Falle, mit tiefen Ringen unter den Augen und maulend
schlich er umher, zwei oder dreimal schon hatte er sich in romantischen
Umschreibungen verheddert, die nur Heiratsabsichten bedeuten konnten. Es
war nötig, ihm eine Hilfe in die richtige Richtung zu geben: eine Kinovorstellung!
Preiswertes Essen und Wein, die Lichter während der Vorführung gelöscht,
danach Tanz im großen Salon, das Mädchen bei so vielen neuen Eindrücken
in der richtigen Stimmung, Pedro endlich im Angriff, und alles in einer
Nacht abgemacht. Der Plan hierzu wurde mit demselben strategischen Eifer
umgesetzt, der dem Sklavenhändler gegolten hatte, und einen Monat später
bereits war Senhor Tomás Vieira mit Rudolf Valentino zur Stelle, per Telegraph
durch rigorose Ausführungen über die Aufteilung der reservierten Plätze
in Kenntnis gesetzt: im Mittelpunkt ein Sessel mit einem stattlichen Schild
an der Rückenlehne, auf dem in Großbuchstaben AUTORITÄT zu lesen stand;
gleich links daneben, unter dem wohlwollenden Blick der Autorität, Onkel
Pedro; und vor ihnen das Mädchen. Das begann während des Abendessens der
sich dort abzeichnenden Zukunft entgegenzulächeln, sah diese Zukunft in
der Platzreservierung für den Film bestätigt und entfernte während der Tanzvorstellung
das Haar aus dem Genick, zeigte, als sie sich bückte, um während der Vorführung
des Weißen Scheichs... eine Träne zu trocknen, etwas mehr von ihrem anmutigen
Nacken, und Pedro: nichts! Worauf der Großvater, um ihm rein didaktisch
zu zeigen, was in solchen Umständen zu tun sei, und ihm pragmatisch beizustehen,
den Schnurrbart und den übrigen Bart zurückstrich, sich majestätisch nach
vorn beugte und jenem kleinen Nacken, der dies schon so lange begehrte,
seine eigene Hommage darbrachte. Und nach vorne gebeugt, ließ der es zu,
von diesen Lippen wieder und wieder beehrt zu werden, von denen er annahm,
es seien die Onkel Pedros (oder nicht?), bis die Lichter im Saal endgültig
angingen. Nur daß Onkel Pedro sich eben weigerte, zum Tanz zu gehen, und
es ganz und gar nicht lustig fand, so sehr der Großvater ihm am folgenden
Tag das Witzige daran auch nahebringen wollte – „wenn sie die Lippen des
Kommissars nicht von meinen zu unterscheiden weiß...“ –, und sich wenig
später entschloß, nach Portugal zurückzukehren, wo er das tugendhafteste
Mädchen der Christenheit und aus ganz Torre de Moncorvo heiratete. Beim
Abschied riß der Großvater in einer charakteristischen, noblen wie sentimentalen
Geste einen Brillantring vom Finger und reichte ihn ihm vor der letzten
Umarmung: „Sei glücklich, mein Junge! Ich wollte dein Bestes!“
Die ferne, in Trás-os-Montes vollzogene Hochzeit jedoch sollte nicht die
einzige sein, die von Senhor Tomás Vieira inspiriert wurde. Der jüngere
Bruder, dem dieser künftige Onkel das niemals gebührend anerkannte Privileg
schuldete, einmal mein Onkel zu werden, war unter dem unwahrscheinlichen
Vorwand, den Film anzusehen, einen ganzen Tag von Lourenço Marques aus unterwegs
gewesen, in Wirklichkeit aber, um zu sehen, was aus der Tochter des Kommissars
geworden war. Die war soeben aus Odivelas zurückgekehrt, und er hatte nie
das rothaarige Mädchen vergessen, das vor einigen Jahren dorthin abgereist
war. Was er sah, gefiel ihm, sie heirateten, sie mit siebzehn, er mit zweiundzwanzig.
„Ein schöner Junge mit einer großen Zukunft“, wie der Großvater in Gegenwart
seiner liebsten Tochter mehrfach gesagt hatte, zufällig, als spräche er
zu allen außer ihr. Da man die großväterlichen Schliche nun etwas besser
kennt, stellt sich die Frage, ob der wahre Vorsatz der Einladung an Senhor
Tomás Vieira am Ende nur das Wohl Onkel Pedros gewesen ist.
Der Großvater lernte seinen ersten Enkel noch kennen, ehe er zur Ilha de
Moçambique und damit zum Höhepunkt seiner Macht weiterzog. Zum Verwalter
ernannt, richtete er sich in dem noblen Renaissancepalast ein, als hätte
er die Räume nach seinen Maßen in Auftrag gegeben: ein privater Kai, eine
Rikscha, ein prächtiger indo-portugiesischer Thron, der jedes Wort überflüssig
machte, das Autorität bedeutete. Sogar einen Fisch gab es dort, den man
„Intendantur“ nannte, da er einen rötlichen Bart besaß, der seinem glich.
Ein absoluter Despot. Von der aufgeklärten Sorte allerdings: er haßte die
Jesuiten (für ihn waren das alle Pater) und versuchte, für alle Kinder des
Distrikts die Schulpflicht einzuführen, „ohne Einschränkungen der Rasse
und einschließlich der Mädchen, die die Mütter des künftigen Fortschritts“
seien. Das Projekt wurde als unrealistisch erachtet, und selbst wenn man
es anders eingeschätzt hätte, so hätte es doch keine Priorität besessen,
und die Prioritäten wurden ihm von dem Gouverneur diktiert. Er antwortete
in einem amtlichen Schreiben, Mouzinho paraphrasierend, der, „obwohl Anhänger
der Monarchie, ein Mensch war“: „Ich habe um Schulen ersucht, nicht um Ratschläge“.
Und so war sein größter Beitrag eine aktive Beteiligung daran, daß die Mädchen
der Insel, und zwar ohne Unterschiede der Rasse, künftige Mütter wurden,
als er dort de facto das feudale Recht der ersten Nacht wiedereinführte,
was seine jakobinische Ideologie de jure bis zum letzten Blutstropfen bekämpft
hätte.
In einem öffentlichen Angriff jedoch auf „diese Hostienlutscher, die nun
an der Macht waren“, zitierte er das Programm von Brito Camacho, „des guten
Freunds, der zu einem verehrten Meister geworden war“: „Man muß die Eingeborenenfrau,
eine Sklavin des Vaters, der Geschwister, des Ehemanns, emanzipieren und
darf dabei nicht vergessen, daß ihr Schoß die fons vitae ist, in der die
zukünftigen Arbeiter gezeugt werden. Man muß den Eingeborenen kleiden...
Vor allem muß man den Eingeborenen erziehen und unterweisen, nicht damit
er dem Besitzer als passives Tier diene, sondern damit er ein wertvoller
Mitarbeiter des weißen Mannes werde, ebenso Mensch wie er, fähiger als er
selbst, auf der glühenden, afrikanischen Erde Reichtum hervorzubringen.“
Kurz: die Integralisten würden ihm nicht das Amt des Gouverneurs verliehen
haben, auf das er Anrecht zu haben meinte; voller Stolz aber betrat er dort
den gleichen Boden, atmete die gleiche Luft, wärmte sich an der gleichen
Sonne, die auch Luís de Camões und Diogo do Couto genügten! Es sollte nicht
lange dauern.
In der Metropole hatte es den Aufstand der Schiffe gegeben, die Repressionen
waren schlimmer geworden, ein Trupp politischer Flüchtlinge kam auf dem
Weg nach Timor zur Ilha de Moçambique, und „wie Diogo do Couto es für Camões
tat“, rief der Großvater, um ihnen zu helfen, zu öffentlichen Spenden auf,
mit seinem Namen, seiner Stellung und den Auszeichnungen auf dem Briefkopf.
Er hatte das Pech, daß der Minister Vieira Machado soeben in der Kolonie
zu Besuch war und ihn von dort sogleich nach Angola versetzte, in der Rangordnung
zurückgestuft und mit der Verfügung, ihn in den entlegensten Bezirk des
Kongodistrikts abzukommandieren.
Der Großvater versuchte noch, sich dem zu entziehen. Er meldete sich krank,
verbrachte ein paar Monate, verstrickt in die Ränke der Kolonialisten im
Café Paço, in Lissabon und verpulverte alles, was er hatte, und auch, was
er nicht hatte, bei aufwendigen Diners und mit zahllosen Geliebten. Und
auch bei anderen genügsameren Versuchen, zur Revolution aufzustacheln. Die
Zeiten aber hatten sich geändert und mit ihnen die Freunde, die nicht im
Gefängnis saßen oder sich im Exil befanden. Schließlich verschwanden alle
zusammen mit dem Kapital, und so machte er sich auf in den Kongodistrikt,
gebrochen schließlich und nun wirklich krank, dorthin, wo der Kannibalismus
wiederaufflackerte. Er fand kaum Zeit, auf eine Anfrage der Geographischen
Gesellschaft zu den Beulen im Schädel der Kannibalen zu antworten.
Sein ehemaliges Haus in Vilarandelo wurde verkauft, um einen Teil der Schulden
abzubezahlen, die er zusammen mit einer um den Verstand gebrachten Witwe
und einem halben Dutzend minderjähriger Kinder hinterließ. Das Haus war
zu groß, niemand wollte es haben, und schließlich kaufte es die Regierung
zum halben Preis, als Haus des Volkes. Nach dem 25. April wurde daraus ein
Bürgerzentrum mit einem Kino. Besser so.
Aus dem Portugiesischen von Markus Sahr